Europas freie Kinder

Zur künstlerischen Arbeit von Hyun Ok Kim

LENA NAUMANN ( 2017 | Editorin - Art Magazin Mundus, München)
 

 

In den 1930er Jahren erschienen zwei Romane – die Autobiografie von Klaus Mann Kind dieser Zeit und der Roman Ein Kind unserer Zeit von Ödön von Horváth –, durch deren Titel uns die Vorstellung so geläufig wie sprichwörtlich geworden ist, dass eine Epoche auf Menschen, die in ihr geboren werden, einen prägenden Einfluss ausübt. In welchem Maße sie das tut, ist auch und nicht zuletzt an der Sprache ihrer Kinderbilder abzulesen, die in dieser Hinsicht besonders aufschlussreich sind. Kinder wurden in früheren Jahrhunderten häufig als kleine Erwachsene gezeigt, als brave, wohlerzogene Buben und züchtig gekleidete Mädchen, deren Auftreten den Erwartungen zu entsprechen hatte, welche die ältere Generation ihnen gegenüber hegte. Im christlich-patriarchalischen Abendland waren das vor allem Anstand, Frömmigkeit, Unterordnung unter die Obrigkeit von Eltern, Staat und Kirche und den von ihnen gesetzten moralischen Postulaten. Erst als sich im Laufe des 18. und 19. Jahrhunderts die Ideen der Aufklärung mehr und mehr verbreiteten, änderten sich auch die Kinderbilder. Mädchen und Jungen wurden freier dargestellt, beispielsweise mit nackten Beinchen oder beim Spiel. Es ist wohl nicht übertrieben zu sagen, dass die Freiheit einer Kultur auch ablesbar ist am Grad der freien Entwicklungsmöglichkeiten für ihre Kinder und der Förderung ihrer individuellen Talente und Interessen. Hierin ist die aufgeklärte westliche Welt und insbesondere Europa in den vergangenen zweihundert Jahren einen einzigartigen Weg gegangen, der verglichen mit anderen Kulturen beispielhaft ist. Wer das Glück hat, in dieser Kultur und dieser Zeit zu leben, mag im Getriebe des Alltags oftmals die Fülle an Freiheiten, die Menschen in Europa zur Verfügung stehen, nicht mehr wahrnehmen. Vieles ist selbstverständlich geworden, was so selbstverständlich gar nicht ist. So muss man manchmal von weit her kommen, um das Naheliegende zu sehen. Wie die koreanische Künstlerin Hyun Ok Kim, die im fernen Osten als Kind deutsche Literatur, klassische Musik und die abendländische Kunstgeschichte kennenlernte. Danach wurde Europa, wurde Deutschland ihr Sehnsuchtsort und seit Ende der neunziger Jahre ihre neue Heimat.

Mozart, Rinser und Monet

Hyun Ok Kim wurde 1970 im südkoreanischen Hamyang in eine kinderreiche Familie hineingeboren. Nach der Geburt eines Sohnes bekamen ihre Eltern noch sieben Töchter, von denen sie die fünfte ist. Nur die harte Arbeit von Mutter und Vater ermöglichte der großen Familie das wirtschaftliche Überleben. Dass Hyun und ihre Geschwister zur Schule gehen konnten, war nicht selbstverständlich, sondern ein Privileg. Prägend wurde für das Kind besonders der enge Kontakt zum älteren Bruder. Dieser war vielseitig interessiert und begeisterte sich vor allem für die Kultur Europas und hier insbesondere für die deutsche. Er hörte nahezu ausschließlich Musik von Bach, Mozart, Händel oder Beethoven und bestellte sich deutsche Literatur in koreanischer Übersetzung. Da der Bruder die Mutter bei der Erziehung der sieben jüngeren Schwestern unterstützte, weckte er die Mädchen allmorgendlich mit Musik von Mozart. Als seine Schwester Hyun älter wurde, gab er ihr die Übersetzung von Luise Rinsers Roman Mitte des Lebens zu lesen, eine Lektüre, die auf die junge Frau geradezu elektrisierend wirkte. In der Protagonistin Nina, die sich dem Werben eines zwanzig Jahre älteren Mannes widersetzt, lernte sie einen selbstbestimmten, emanzipierten Frauentypus kennen, der sie stark beeindruckte. Dass eine Frau den Mut und die Freiheit besitzen kann, gegenüber einem älteren Mann Nein zu sagen, war ein neuer Gedanke für Hyun Ok Kim. Denn ihre Heimat Südkorea ist ein Land, das über Einflüsse aus China noch immer konfuzianisch geprägt ist, wenn diese Einflüsse sich auch seit einiger Zeit lockern. Der Konfuzianismus ist eine Geisteshaltung, in der Ordnung, Tradition, Anstand und Sitte, Pietät und der Respekt der Jungen gegenüber den Alten einen hohen Stellenwert besitzen, allesamt keineswegs unwichtige Werte, deren Schattenseite aber darin liegt, dass sie mehr eine Anpassung und Unterordnung als eine freie Entfaltung des Individuums fördern. Jüngere Menschen haben den Erwartungen der Älteren zu entsprechen. Sich ihnen zu verweigern, wie es die Protagonistin Nina im Roman von Luise Rinser tut, erscheint jungen Südkoreanern als geradezu revolutionär. Die Lektüre des Romans Mitte des Lebens wurde daher für Hyun Ok Kim zu einer faszinierenden literarischen Erfahrung, die sie von nun an zielstrebig zu einer biografischen zu machen gedachte. Sie wollte sich nicht mehr anpassen müssen, sondern ihren eigenen Weg suchen und finden.

Doch nicht nur Musik und Literatur, auch die europäische Kunst übte einen Einfluss auf sie aus. Hyun Ok Kim war von Kindheit an zeichnerisch begabt und wusste schon sehr früh, dass sie Künstlerin werden wollte. In diesem Wunsch wurde sie bestärkt, als sie in einer Kunstzeitschrift, die der ältere Bruder abonniert hatte, eines Tages ein Bild von Claude Monet mit intensiv roten Blüten auf grünem Hintergrund entdeckte. Das Gemälde beeindruckte sie nachhaltig und war ihre erste Begegnung mit dem später von ihr so geschätzten Impressionismus.

Nachdem ihr Vater als Lebensmittelunternehmer in den neunziger Jahren zu etwas Wohlstand gelangt war, ermöglichte er der Tochter das ersehnte Kunststudium. Von 1990 bis 1991 studierte Hyun Ok Kim zunächst an der Kunstakademie der Chung-Ang Universität und wechselte 1993 an die Hochschule für Bildende Kunst der Hongik Universität in Seoul, wo sie ihr Kunststudium abschloss. 1998 ergab sich für sie die Möglichkeit, in Deutschland einen Sprachkurs zu absolvieren. Dies tat sie erfolgreich – und blieb. 1998 schrieb sie sich an der TU Berlin für ein Studium der Kunstwissenschaften ein. Heute lebt sie zusammen mit ihrem Mann, einem promovierten Chemiker aus Südkorea, und den drei Kindern in Berlin-Steglitz.

An die europäische Kunstgeschichte anknüpfen

Was Hyun Ok Kim an handwerklichem Können besitzt, hat sie vor allem in Korea gelernt, wo die Professoren auf eine gute Beherrschung der Maltechniken viel Wert legen. Das Kunststudium in Korea ist konservativer und noch stark an Traditionen orientiert. In Deutschland ermuntern Professoren ihre Studenten dagegen herauszufinden, welches Thema ihnen wichtig ist und wie sie es in ihrer eigenen bildnerischen Sprache am besten zum Ausdruck bringen. In Südkorea ist das Kunststudium also tendenziell konfuzianisch und kollektivistisch organisiert, in Deutschland freier und individualistischer. Beide Ansätze, der koreanische wie der deutsche, haben für angehende Künstler Vor- und Nachteile. Weil Hyun Ok Kim in Korea und in Deutschland studiert hat, konnte sie von den Vorteilen beider Ausbildungen profitieren.

Hyun Ok Kim malt mit klassischen Techniken wie Öl oder Acryl auf Leinwand. Ihre hauptsächlichen Motive sind Kinder. Zunächst ihre eigenen drei, den Sohn und die beiden Töchter, aber auch deren Freunde oder Kinder von Sammlern ihrer Bilder. Es ist auffällig, dass sie die Jungen und Mädchen nicht in Räumen oder auf Sofas sitzend zeigt, sondern immer in der Natur, umgeben von Bäumen, am Strand oder im stillen Dialog mit einem Tier. „Ich mag die Kraft und die Unschuld der Natur, wie sie sich in Kindern, Bäumen und Tieren zeigt. Sie zu erfahren, zu fühlen und zu malen, ist eine beglückende Erfahrung für mich“, so die Künstlerin. Sie liebt ein unmittelbares Naturerleben, hat bereits als Kind gerne im Regen gespielt oder stundenlang unter Bäumen gesessen und mit ihnen stumme Zwiesprache gehalten. Man mag auf den ersten Blick der Versuchung erliegen, ihre Bildwelten als „typisch asiatisch“ aufzufassen. Das sind sie aber nicht. Dafür sind die Physiognomie und das Verhalten der dargestellten Kinder zu individuell und zu natürlich. Sie besitzen ein eigenes Leben und eine sehr persönliche Gefühlswelt, die hinter jedem dargestellten Kind spürbar wird. Diese Bilder sind frei von starren Konventionen. Sie zeigen die Lebendigkeit von Kindern in ihrer schönsten Form.

Auf die Frage nach künstlerischen Vorbildern nennt Hyun Ok Kim vor allem den südkoreanischen Maler Lee Jung Seob, dessen Bilder von seiner Familie, seinen beiden Söhnen und seiner Frau wegen ihrer emotionalen Tiefe und Authentizität bis heute eine starke Wirkung auf sie ausüben. Aber auch Vincent van Gogh schätzt sie sehr und bewundert seinen souveränen Umgang mit Farben.

Wer ihre Arbeiten betrachtet, sieht von ferne den Impressionismus hindurch scheinen, wird dabei aber weniger an Monet als an eine berühmte weibliche Vertreterin dieser Stilrichtung erinnert: die Impressionistin Berthe Morisot, die zauberhafte Kinderbilder zu malen wusste. Doch während die Kinder bei Morisot – darin ganz Kinder ihrer Zeit – oftmals noch brav und streng erzogen wirken, z. B. im Bild Die Schwestern aus dem Jahr 1869, sind die Kinder in den Bildern von Hyun Ok Kim – ebenfalls ganz Kinder ihrer Zeit – echte Rangen: da tragen Mädchen auch mal Jeanshosen, toben herum, patschen durch Pfützen, jagen Blättern hinterher, fangen einen Hahn, angeln oder nehmen sich Huckepack. Diese Kinder müssen sich nicht mehr unhinterfragbaren Obrigkeiten unterordnen; sie dürfen auch einmal Widerworte geben, Fragen stellen und eigene Vorstellungen entwickeln. Der heutige Nachwuchs des aufgeklärten, liberalen Europas ist frei, weil bereits seine Elterngeneration die überflüssigen Zwänge und Konventionen, welche die Lebendigkeit von Kindern einschränken könnten, hinter sich gelassen hat. Diese Freiheit sichtbar werden zu lassen, macht die Modernität und die besondere Qualität der Arbeiten von Hyun Ok Kim aus, die aus der Fremde kam, um uns mit ihren Bildern daran zu erinnern, in welch glücklichen Zeiten wir leben.